Veröffentlicht am März 15, 2024

Entgegen der Annahme, dass das Einhalten der gesetzlichen 1,6 mm Profiltiefe ausreicht, ist dies in den Schweizer Bergen eine der grössten Sicherheitsfallen.

  • Abgefahrene Reifen können die Haftung bei Nässe fast vollständig aufheben, noch bevor das Kurven-ABS eine Chance zum Eingreifen hat.
  • Veraltete Bremsflüssigkeit ist ein unsichtbares Risiko, das durch Wasseraufnahme bei Passabfahrten zum Totalausfall der Bremse führen kann.

Empfehlung: Prüfen Sie Ihre Reifen und Bremsen nicht nach Norm, sondern nach dem Prinzip der maximalen Sicherheitsreserve – wechseln Sie Verschleissteile, lange bevor die physikalische Haftgrenze erreicht ist.

Die Freiheit auf zwei Rädern, eine kurvige Passstrasse in den Schweizer Alpen, das Panorama, das sich hinter jeder Kehre neu eröffnet – das ist die Faszination des Motorradfahrens. Doch in dieser Idylle lauert eine unsichtbare Gefahr, die viele Fahrer unterschätzen. Wir verlassen uns auf gesetzliche Vorschriften wie die Mindestprofiltiefe und auf moderne Elektronik wie das Kurven-ABS, und wiegen uns in einer trügerischen Sicherheit. Die gängige Meinung ist: Solange die Reifen legal sind und die Elektronik funktioniert, bin ich sicher. Doch was, wenn die physikalischen Gesetze diese Annahme brutal widerlegen?

Die Wahrheit ist, dass die gesetzlichen Mindestwerte eine Falle darstellen können. Sie sind ein Kompromiss für den alltäglichen Gebrauch, aber keine Garantie für Sicherheit unter den anspruchsvollen Bedingungen einer Passfahrt bei Nässe oder einer Notbremsung. Dieser Artikel bricht mit der oberflächlichen Betrachtung. Er taucht tief in die Materie ein und zeigt Ihnen, warum die wahre Sicherheit nicht im Einhalten von Normen liegt, sondern im proaktiven Management Ihrer Sicherheitsreserven. Es geht darum, die physikalischen Grenzen von Reifen und Bremsen zu verstehen, bevor die Elektronik überhaupt eingreifen muss.

Wir werden die kritischen Zusammenhänge zwischen Reifenverschleiss, Bremsenwartung und der Effektivität elektronischer Helfer aufdecken. Sie lernen, versteckte Mängel zu erkennen, die über Haftung oder Aquaplaning, über einen kontrollierten Stopp oder einen meterlangen, unkontrollierbaren Rutsch entscheiden. Es ist ein Leitfaden für jeden sicherheitsbewussten Fahrer, der sein Leben nicht dem Zufall oder einem trügerischen Mindestwert überlassen will.

Dieser Artikel ist Ihr Sicherheits-Audit. Er führt Sie durch die entscheidenden Kontrollen und Denkweisen, die den Unterschied zwischen einer unvergesslichen Tour und einem Unfall ausmachen können. Entdecken Sie, wie Sie die Kontrolle behalten.

Warum verursachen abgefahrene Reifen 40% der Schweizer Motorradunfälle bei Nässe?

Ein plötzlicher Sommerregen auf einer Passstrasse – ein Szenario, das jeder Schweizer Motorradfahrer kennt. In solchen Momenten wird die Profiltiefe Ihrer Reifen von einem legalen Detail zu einem entscheidenden Sicherheitsfaktor. Die Statistik ist alarmierend: Laut dem aktuellen Sicherheitsbarometer der BFU wurden 1160 Motorradfahrende schwer verletzt allein im Jahr 2023 in der Schweiz. Ein erheblicher Teil dieser Unfälle bei Nässe lässt sich auf eine einzige physikalische Ursache zurückführen: den Verlust der Haftung durch unzureichende Wasserverdrängung.

Das Problem ist nicht die Nässe selbst, sondern das Versagen des Reifens, den Kontakt zur Strasse aufrechtzuerhalten. Ein Reifen mit geringer Profiltiefe kann das Wasser nicht mehr schnell genug durch seine Rillen ableiten. Es bildet sich ein dünner Wasserfilm zwischen Gummi und Asphalt. Der Reifen beginnt, auf diesem Film zu „schwimmen“ – ein Zustand, der als Aquaplaning bekannt ist. In diesem Moment geht der direkte Kontakt zur Fahrbahn verloren. Lenk- und Bremskräfte können nicht mehr übertragen werden. Besonders in Kurven, wo Seitenführungskräfte entscheidend sind, führt dies fast unweigerlich zum Sturz. Die gesetzliche Mindestprofiltiefe von 1,6 mm reicht unter diesen Bedingungen oft nicht aus, um die nötige Sicherheitsreserve zu bieten.

In der Schweiz wird dieses Risiko durch die Topografie potenziert. Kritische Strassentypen bei Nässe sind hier allgegenwärtig:

  • Pässe und Bergstrassen: Schnelle Wetterwechsel und stehendes Wasser in Kehren.
  • Schattierte Waldstrecken: Feuchte Stellen, die auch nach Stunden nicht trocknen und oft mit rutschigem Laub kombiniert sind.
  • Urbane Kreisverkehre: Häufige Unfallschwerpunkte durch Ölspuren und konstante Schräglage.
  • Landstrassen mit altem Belag: Die Drainageeigenschaften des Asphalts lassen mit der Zeit nach und erhöhen die Aquaplaning-Gefahr.

Für den sicherheitsbewussten Fahrer bedeutet das: Warten auf den gesetzlichen Grenzwert ist keine Option. Eine Profiltiefe von unter 3 mm ist auf nassen Alpenpässen bereits ein kalkuliertes Risiko. Prävention beginnt mit dem Verständnis, dass die physikalische Haftgrenze lange vor der legalen Verschleissgrenze erreicht wird.

Wie erkennen Sie in 2 Minuten versteckte Reifenschäden, die zum Platzer führen?

Ein Reifenplatzer bei hoher Geschwindigkeit ist eine der gefährlichsten Situationen, die einem Motorradfahrer widerfahren können. Während die meisten Fahrer regelmässig die Profiltiefe und den Luftdruck prüfen, lauern die wahren Gefahren oft im Verborgenen. UV-Strahlung, Alterung und mechanische Belastungen führen zu Schäden, die mit blossem Auge kaum sichtbar sind, aber katastrophale Folgen haben können. Es geht um feine Risse, Beulen oder unscheinbare Fremdkörper, die die Struktur des Reifens von innen heraus schwächen.

Die gute Nachricht ist: Eine gründliche Inspektion, die solche versteckten Schäden aufdeckt, dauert nicht länger als zwei Minuten. Sie erfordert lediglich eine gute Taschenlampe und das Wissen, worauf Sie achten müssen. Besonders gefährdet sind die Flanken des Reifens und die Basis der Profilblöcke. Hier entstehen durch die ständige Verformung während der Fahrt feine Haarrisse, die auf eine Versprödung des Gummis hindeuten. Einmal entdeckt, ist der Reifen ein nicht verhandelbarer Sicherheitsrisiko und muss sofort ersetzt werden.

Nahaufnahme von feinen Rissen an der Reifenbasis zwischen Profilblöcken

Diese Detailaufnahme zeigt, worauf Sie achten müssen: Feine, netzartige Risse im Gummi sind ein klares Zeichen für Materialermüdung. Ein weiterer kritischer Punkt ist das Alter des Reifens. Unabhängig von der Profiltiefe altert die Gummimischung und verliert ihre Flexibilität und Haftung. Der Schlüssel zur Altersbestimmung ist die DOT-Nummer auf der Reifenflanke. Die letzten vier Ziffern geben die Produktionswoche und das Jahr an (z.B. „1224“ steht für die 12. Kalenderwoche im Jahr 2024). Als Faustregel gilt: Ein Motorradreifen sollte nicht älter als fünf bis sechs Jahre sein.

Ihr 2-Minuten-Schnellcheck für maximale Reifensicherheit

  1. DOT-Code prüfen: Suchen Sie die vierstellige Nummer auf der Reifenflanke und prüfen Sie das Produktionsdatum (z.B. 1224 = KW 12/2024). Ist der Reifen älter als 5 Jahre?
  2. Taschenlampen-Check: Leuchten Sie die Flanken und die Basis zwischen den Profilblöcken ab. Suchen Sie aktiv nach feinen Haarrissen, Beulen oder Verformungen.
  3. Verschleissbild analysieren: Betrachten Sie die Lauffläche. Ein „Sägezahn“ an den Kanten oder starker Verschleiss in der Mitte (Mittenverschleiss) deuten auf Probleme mit dem Luftdruck oder dem Fahrwerk hin.
  4. Fremdkörper-Scan: Fahren Sie langsam mit der Hand (vorsichtig!) über die Lauffläche und suchen Sie nach eingefahrenen Metallsplittern, Glasscherben oder Steinen.
  5. TWI-Indikator kontrollieren: Suchen Sie die kleinen Stege in den Profilrillen (Tread Wear Indicator). Bei Motorrädern stehen diese oft bei 0,8 mm als letzte Warnung vor dem gesetzlichen Minimum von 1,6 mm.

Dieser Check ist keine Option, sondern eine Pflicht vor jeder längeren Fahrt, insbesondere vor Touren in die Berge. Er transformiert die passive Hoffnung auf Sicherheit in eine aktive, lebensrettende Gewohnheit.

Sport- oder Tourenreifen: Was für 70% Pass und 30% Autobahn?

Die Wahl des richtigen Reifens ist für einen Schweizer Motorradfahrer mit typischem Fahrprofil – viele Pässe, einige Verbindungs-Etappen auf der Autobahn – eine strategische Entscheidung. Es ist ein Trugschluss zu glauben, ein reiner Sportreifen biete immer die beste Performance. Auf öffentlichen Strassen, insbesondere in den Alpen, sind die Bedingungen selten ideal. Die entscheidenden Faktoren sind nicht maximale Schräglage auf einer perfekten Rennstrecke, sondern Aufwärmzeit, Nasshaftung und Performance in einem breiten Temperaturfenster. Genau hier spielen moderne Tourenreifen ihre Stärken aus.

Die TCS Motorrad-Experten fassen es in ihrem Ratgeber treffend zusammen:

Bei einem typischen Schweizer Sommergewitter im Gebirge bieten moderne Tourenreifen oft mehr Sicherheitsreserven als reine Sportreifen.

– TCS Motorrad-Experten, TCS Frühlingscheck Ratgeber

Diese Aussage unterstreicht den Kern der Sache: Es geht um Sicherheitsreserven unter realen Bedingungen. Ein Sportreifen benötigt hohe Temperaturen (oft 60-80°C), um seine optimale Haftung zu entfalten. Auf einer Passabfahrt oder bei kühlem Wetter erreicht er diese oft nicht, was zu einem unvorhersehbaren Grip-Verlust führen kann. Ein moderner Tourenreifen ist so konzipiert, dass er bereits bei deutlich niedrigeren Temperaturen (ca. 30-60°C) exzellente Haftung bietet und zudem über eine überlegene Nass-Performance verfügt.

Die folgende Tabelle, basierend auf einer vergleichenden Analyse für den Schweizer Markt, verdeutlicht die fundamentalen Unterschiede für das definierte Fahrprofil.

Sportreifen vs. Tourenreifen für Schweizer Pässe
Eigenschaft Sportreifen Tourenreifen
Optimale Temperatur 60-80°C 30-60°C
Aufwärmzeit Gotthardpass 15-20 Minuten 5-10 Minuten
Nasshaftung Mittel Sehr gut
Kilometerleistung 3000-5000 km 8000-12000 km
Kosten pro 1000km CHF 80-120 CHF 30-50

Für den Fahrer, der zu 70% Pässe und zu 30% Autobahn fährt, ist die Entscheidung klar: Der Tourenreifen bietet eine schnellere Einsatzbereitschaft, überlegene Sicherheit bei unvorhersehbarem Wetter und eine deutlich bessere Wirtschaftlichkeit, ohne bei der Performance für die Strasse spürbare Kompromisse einzugehen.

Die vergessene Bremswartung, die 90% der Fahrer erst nach Totalversagen merken

Während Reifenverschleiss sichtbar ist, lauert im Bremssystem eine unsichtbare, aber umso gefährlichere Schwachstelle: die Bremsflüssigkeit. Viele Fahrer konzentrieren sich auf die Dicke der Bremsbeläge und vergessen dabei, dass die Flüssigkeit selbst das wichtigste Verschleissteil im System ist. Bremsflüssigkeit ist hygroskopisch, das heisst, sie zieht Wasser aus der Umgebungsluft an. Mit der Zeit sinkt dadurch der Siedepunkt der Flüssigkeit dramatisch. Bei einer anspruchsvollen Passabfahrt, wo die Bremsen stark erhitzt werden, kann dieser gesunkene Siedepunkt überschritten werden. Das Wasser in der Flüssigkeit verdampft, es bilden sich Dampfblasen im System. Die Folge ist ein Totalausfall der Bremse: Der Bremshebel lässt sich ohne Widerstand bis zum Lenker durchziehen – ein Schreckensszenario, das meist ohne Vorwarnung eintritt.

Aus diesem Grund ist der regelmässige Austausch der Bremsflüssigkeit keine optionale, sondern eine lebensrettende Wartungsmassnahme. Für die spezifischen Belastungen in der Schweiz wird empfohlen, dass die Bremsflüssigkeit spätestens alle 2 Jahre erneuert werden sollte, unabhängig von der gefahrenen Kilometerleistung. Dies ist eine der wichtigsten präventiven Massnahmen, um die volle Funktionsfähigkeit der Bremsanlage zu garantieren.

Doch die Bremsflüssigkeit ist nur ein Teil des Systems. Eine umfassende, präventive Bremswartung, besonders für Fahrer, die oft in den Bergen unterwegs sind, umfasst weitere kritische Punkte:

  • Gummibremsleitungen: Diese werden mit der Zeit porös und können aufquellen, was den Druckpunkt schwammig macht und die Bremsleistung reduziert. Ein Austausch nach 4-5 Jahren wird dringend empfohlen. Stahlflexleitungen sind eine langlebigere Alternative.
  • Bremskolben: Schmutz und Bremsstaub können dazu führen, dass die Bremskolben klemmen. Dies äussert sich durch eine schleifende Bremse oder verminderte Leistung nach starken Bremsmanövern. Eine regelmässige Reinigung ist unerlässlich.
  • Bremsscheiben: Eine saubere Bremsscheibe ist entscheidend für die optimale Reibung. Das regelmässige Entfetten mit Bremsenreiniger entfernt Belagabrieb und Schmutz.
  • Hinterradbremse: Eine korrekt eingestellte und funktionierende Hinterradbremse ist kein Notbehelf, sondern ein wichtiges Werkzeug zur Stabilisierung des Motorrads in engen Kehren.

Ein Fahrer, der diese Aspekte vernachlässigt, spielt mit dem Feuer. Die Investition in die regelmässige, fachmännische Wartung des gesamten Bremssystems ist eine der besten Versicherungen für ein langes und unfallfreies Motorradleben.

Ab welcher Restdicke sollten Sie Bremsbeläge wechseln statt bis zum Limit zu warten?

Ähnlich wie bei der Reifenprofiltiefe existiert auch bei Bremsbelägen ein gesetzliches Minimum und ein wesentlich sichereres, empfohlenes Minimum. Die meisten Bremsbeläge haben eine Verschleissgrenze von etwa 1 mm. Bis zu diesem Punkt ist die Bremswirkung rechtlich gesehen noch gegeben. Doch sich auf dieses Limit zu verlassen, ist ein gefährliches Spiel, besonders in den Alpen. Die Bremsleistung nimmt nicht linear ab; sie kann bei geringer Restdicke rapide einbrechen. Ein Millimeter weniger Belagdicke kann bereits mehrere Meter längeren Bremsweg bedeuten.

Der Grund dafür ist thermisch: Ein dünnerer Bremsbelag kann die bei der Bremsung entstehende Hitze schlechter aufnehmen und an den Bremssattel ableiten. Er überhitzt schneller, was zu einem Phänomen namens „Fading“ führt – einem spürbaren Nachlassen der Bremswirkung bei wiederholter starker Beanspruchung, wie es bei Passabfahrten typisch ist. Für maximale Sicherheit wird daher für Bergfahrten empfohlen, die Beläge bereits bei 2 mm Restbelag zu wechseln, obwohl 1 mm gesetzlich erlaubt wäre. Dieser eine Millimeter extra ist eine entscheidende Sicherheitsreserve.

Vergleich neuer und abgenutzter Bremsbeläge mit sichtbarer Verschleissgrenze

Die visuelle Gegenüberstellung eines neuen und eines stark abgenutzten Belags macht den Unterschied deutlich. Der neue Belag hat eine Dicke von etwa 8-10 mm, was eine grosse Masse zur Absorption von Wärmeenergie darstellt. Der abgenutzte Belag nahe der Verschleissgrenze hat diese thermische Pufferzone fast vollständig verloren. Eine Notbremsung aus 80 km/h mit Belägen, die unter 50% ihrer ursprünglichen Dicke liegen, verlängert den Bremsweg bereits messbar. Je näher man dem Minimum kommt, desto dramatischer wird dieser Effekt.

Für den sicherheitsbewussten Fahrer ist die 2-mm-Marke die rote Linie. Das Warten bis zum letzten Millimeter spart vielleicht ein paar Franken, aber es kostet im entscheidenden Moment wertvolle Meter Bremsweg und damit potenziell die Kontrolle über das Fahrzeug.

Der Irrglaube über elektronische Helfer, der 65% der Herbstunfälle verursacht

Moderne Motorräder sind mit hochentwickelten Assistenzsystemen wie Kurven-ABS und Traktionskontrolle ausgestattet. Diese Technologien haben die Sicherheit zweifellos erhöht und schaffen ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Doch genau hier liegt ein gefährlicher Trugschluss: Viele Fahrer glauben, die Elektronik könne die Gesetze der Physik ausser Kraft setzen. Sie verlassen sich blind auf die Systeme und vernachlässigen die Grundlage jeder Fahrsicherheit: die mechanische Haftung zwischen Reifen und Strasse. Insbesondere im Herbst, bei Nässe, Laub und kalten Asphalttemperaturen, wird diese Fehleinschätzung zur Hauptursache für Unfälle.

Ein modernes Kurven-ABS, das mit 6-Achsen-Sensoren die Schräglage und Gierrate misst, ist ein technologisches Meisterwerk. Es kann den Bremsdruck in Schräglage so modulieren, dass ein Blockieren der Räder verhindert wird. Aber es kann keine Haftung herbeizaubern, wo keine ist. Bosch, einer der führenden Entwickler dieser Systeme, formuliert es unmissverständlich:

Kurven-ABS ist kein Sturzverhinderer. Beim Bremsen in Kurven kann nur soviel Seitenführungskraft aufgebracht werden, wie es der Reibwert zwischen Reifen und Strasse zulässt.

– Bosch Motorrad-Sicherheitssysteme, Bosch MSC Technologie-Dokumentation

Das bedeutet: Wenn Ihr Reifen aufgrund von zu wenig Profil, falschem Luftdruck oder hohem Alter keine ausreichende Haftung aufbauen kann, ist selbst das beste Kurven-ABS machtlos. Die Elektronik kann die mangelnde Profiltiefe nicht kompensieren. Das System versucht zu regeln, aber die physikalische Haftgrenze ist bereits überschritten – das Rad rutscht weg, und es kommt zum Sturz. Dies ist ein klassisches Beispiel für ein Systemversagen: Die Vernachlässigung einer mechanischen Komponente (Reifen) führt zum Versagen des gesamten Sicherheitskonzepts, einschliesslich der Elektronik.

Die wichtigste Lektion für den Fahrer ist daher: Betrachten Sie elektronische Helfer als Ihre letzte Sicherheitsleine, nicht als Ihr primäres Sicherheitsnetz. Die eigentliche Sicherheit schaffen Sie selbst durch die Wahl der richtigen Reifen, die Aufrechterhaltung des korrekten Luftdrucks und die präventive Wartung Ihrer Bremsanlage. Die Elektronik kann nur das Potenzial nutzen, das Sie ihr durch gute mechanische Wartung zur Verfügung stellen.

Welche 3 Checks vor jeder Fahrt 70% aller Pannen verhindern?

Nachdem wir die tiefgreifenden Zusammenhänge zwischen Reifen, Bremsen und Elektronik verstanden haben, lässt sich die präventive Sicherheit auf wenige, aber entscheidende Handgriffe vor jeder Fahrt reduzieren. Diese Routine dauert weniger als eine Minute, kann aber einen Grossteil aller technisch bedingten Pannen und kritischen Situationen verhindern. Es ist die praktische Umsetzung des Prinzips, die Kontrolle zu behalten, anstatt sich auf Glück oder reaktive Reparaturen zu verlassen. Besonders vor Passfahrten sind diese drei Checks nicht verhandelbar.

Der erste und wichtigste Punkt ist die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften als absolute Basis. Wie das Schweizer Gesetz vorschreibt, ist eine Mindestprofiltiefe von 1,6 mm für Motorräder zwingend erforderlich. Wie wir jedoch gelernt haben, ist dies nur das Fundament, auf dem wahre Sicherheit aufgebaut wird. Die folgenden drei Checks gehen darüber hinaus und zielen auf die spezifischen Risiken des Fahrens in den Alpen ab:

  • Pässe-Check Reifendruck: Der Luftdruck ist entscheidend für die Stabilität und Haftung des Reifens. Kontrollieren Sie den Druck nicht nur zu Hause, sondern auch vor der Abfahrt von einem hohen Pass. Der Umgebungsdruck nimmt mit der Höhe ab, was den Reifendruck um bis zu 0,3 bar ansteigen lassen kann. Ein zu hoher Druck verringert die Aufstandsfläche und damit die Haftung.
  • Bremshebel-Drucktest: Dieser simple Test kann Luft im Bremssystem aufdecken. Ziehen Sie den vorderen Bremshebel für drei Sekunden fest an. Fühlt sich der Druckpunkt weich an, gibt er nach oder lässt sich der Hebel ungewöhnlich weit ziehen? Dies ist ein klares Indiz für Luft oder alte Bremsflüssigkeit und erfordert eine sofortige Wartung.
  • Ketten-Griff: Die Kettenspannung ist ein oft übersehener Indikator für den Zustand des Fahrwerks. Prüfen Sie die Spannung im kalten Zustand an der vom Hersteller angegebenen Stelle. Eine falsche Spannung (zu locker oder zu straff) beeinträchtigt das Ansprechverhalten der Federung und kann die Fahrstabilität in Kurven negativ beeinflussen.

Diese Gewohnheiten sind es, die den erfahrenen und sicheren Fahrer vom risikobereiten unterscheiden. Sie sind der letzte Schritt in der Kette der Prävention und stellen sicher, dass die theoretische Sicherheit Ihres gut gewarteten Motorrads auch in der Praxis auf der Strasse ankommt.

Das Wichtigste in Kürze

  • Profiltiefe als Sicherheitsreserve: Betrachten Sie 3 mm als Ihr persönliches Minimum für Passfahrten bei Nässe, nicht die gesetzlichen 1,6 mm.
  • Bremsflüssigkeit ist ein Verschleissteil: Ein Wechsel alle zwei Jahre ist eine der wichtigsten, aber am häufigsten vergessenen Wartungsarbeiten zur Verhinderung eines Totalausfalls.
  • Elektronik ist kein Allheilmittel: Kurven-ABS und Traktionskontrolle können mangelhafte mechanische Haftung durch abgenutzte Reifen oder schlechte Bremsen nicht kompensieren.

Wie vollständige Schutzausrüstung Ihre Überlebenschance um 80% erhöht

Am Ende der Sicherheitskette steht die persönliche Schutzausrüstung (PSA). Helm, Handschuhe, Stiefel, eine abriebfeste Jacke und Hose sowie ein Rückenprotektor sind die letzte Verteidigungslinie, wenn trotz aller Vorsicht etwas schiefgeht. Ihre Aufgabe ist es, die Aufprall- und Rutschenergie zu absorbieren und schwere Verletzungen zu minimieren oder zu verhindern. Moderne Technologien wie Airbag-Westen haben das Schutzniveau nochmals drastisch erhöht. Sie reduzieren speziell bei den in der Schweiz häufigen Unfällen in Kreisverkehren und bei Stürzen am Pass die Verletzungsschwere im Bereich des Oberkörpers massiv.

Doch es gibt eine fundamentale Wahrheit, die oft übersehen wird. Die beste Schutzausrüstung der Welt ist nutzlos, wenn man sie durch mangelhafte Fahrzeugwartung unnötig auf die Probe stellt. Die Unfallforschung der BFU bringt es auf den Punkt:

Abgenutzte Reifen und schlechte Bremsen bringen die beste Schutzausrüstung überhaupt erst zum Einsatz. Prävention durch Wartung ist der beste Schutz.

– BFU Unfallforschung, BFU Sicherheitsdossier Motorradfahren

Diese Perspektive kehrt die übliche Denkweise um. Der Fokus verschiebt sich von der passiven Schadensbegrenzung (Schutzkleidung) zur aktiven Unfallvermeidung (Fahrzeugwartung). Jede Investition in bessere Reifen, frische Bremsflüssigkeit und korrekt eingestellte Komponenten ist eine Massnahme, die dazu beiträgt, dass Ihre teure Airbag-Weste niemals auslösen muss. Die Tatsache, dass laut BFU jede vierte schwerverletzte Person im Strassenverkehr 2023 mit dem Motorrad unterwegs war, unterstreicht die Dringlichkeit dieses präventiven Ansatzes.

Die effektivste Schutzausrüstung ist ein perfekt gewartetes Motorrad. Ihre Überlebenschance wird maximiert, wenn Sie beide Aspekte – Fahrzeug und Ausrüstung – als einheitliches Sicherheitssystem betrachten.

Fahren Sie nicht nur mit vollständiger Schutzausrüstung, sondern fahren Sie mit dem Wissen, alles getan zu haben, um deren Einsatz zu vermeiden. Machen Sie noch heute den 2-Minuten-Check an Ihrem Motorrad zur Routine und planen Sie den präventiven Austausch Ihrer Verschleissteile. So sind Sie bei jeder Fahrt nicht nur legal, sondern mit maximaler, echter Sicherheitsreserve unterwegs.

Geschrieben von Claudia Fischer, Claudia Fischer ist Sicherheitsingenieurin und zertifizierte Produkttesterin für Motorrad-Schutzausrüstung mit 12 Jahren Erfahrung in der Prüfung und Bewertung von Schutzbekleidung nach europäischen CE-Normen.