Veröffentlicht am Mai 21, 2024

Entgegen der landläufigen Meinung ist das CE-Siegel kein universelles Sicherheitsversprechen, sondern eine Klassifizierung, die oft mehr über Marketing als über echten Schutz aussagt.

  • Die Schutzklasse „A“ bietet bei Stadtgeschwindigkeit von 50 km/h oft weniger als eine Sekunde Schutz und ist für den Alltag unzureichend.
  • Echte Sicherheit beginnt bei Klasse „AA“ für Touren und „AAA“ für sportliches Fahren, was sich direkt in der Abriebfestigkeit widerspiegelt.
  • Die neue Helm-Norm ECE 22.06 bietet durch Tests auf Rotationskräfte einen entscheidend besseren Schutz als der veraltete 22.05-Standard.

Empfehlung: Prüfen Sie bei jedem Kauf das eingenähte Label auf die Norm EN 17092 und die Schutzklasse (A, AA oder AAA). Ignorieren Sie Produkte der Klasse A und investieren Sie mindestens in Klasse AA für Ihre Sicherheit auf Schweizer Strassen.

Jeder Motorradfahrer in der Schweiz kennt das Gefühl: Man steht vor einer Wand aus Jacken, Hosen und Handschuhen, alle versehen mit dem vertrauenserweckenden CE-Zeichen. Dieses Siegel verspricht Sicherheit, Konformität und Schutz. Doch was, wenn dieses Versprechen eine gefährliche Illusion ist? Was, wenn das CE-Zeichen, dem Sie Ihr Leben anvertrauen, in Wahrheit nur eine Marketing-Plakette ist, die den Unterschied zwischen einem blauen Fleck und einer lebensverändernden Verletzung verschleiert? Die meisten Ratgeber begnügen sich mit dem Hinweis „Achten Sie auf das CE-Zeichen“. Doch das ist, als würde man einem Bergsteiger raten, einfach „ein Seil“ zu benutzen, ohne zwischen einem Kletterseil und einer Wäscheleine zu unterscheiden.

Die Realität der Normen ist weitaus komplexer und kritischer. Es geht nicht darum, *ob* ein Kleidungsstück zertifiziert ist, sondern *wofür* und *wie gut*. Eine Jacke der niedrigsten Schutzklasse kann legal das CE-Zeichen tragen, obwohl sie bei einem typischen Landstrassensturz nach wenigen Metern zerfetzt wird. Dieser Artikel bricht mit den oberflächlichen Ratschlägen. Wir agieren als Ihr persönlicher Normenprüfer und geben Ihnen die „Entschlüsselungs-Kompetenz“, die Sie benötigen, um die Codes auf den Etiketten kritisch zu lesen. Es ist die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen – die lebensrettende Ausrüstung von der clever vermarkteten Freizeitbekleidung.

Wir tauchen tief in die Welt der Normen EN 17092, EN 1621 und ECE 22.06 ein. Sie lernen, warum eine Klasse-A-Jacke auf einer Passfahrt fahrlässig ist, wie Sie Fälschungen erkennen und warum die Abgasnorm Ihres Motorrads für Ihr Überleben weitaus weniger relevant ist als die Norm Ihrer Kleidung. Am Ende dieses Leitfadens werden Sie nie wieder auf die gleiche Weise eine Motorradjacke ansehen. Sie werden nicht nur ein Käufer sein, sondern ein informierter Experte für Ihre eigene Sicherheit.

Dieser Leitfaden ist systematisch aufgebaut, um Ihnen eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu geben. Jede Sektion beantwortet eine kritische Frage, die Sie sich vor dem Kauf von Schutzausrüstung stellen sollten. Der folgende Sommaire gibt Ihnen einen Überblick über die Themen, die wir behandeln werden.

Warum schützen 40% der CE-gekennzeichneten Jacken bei 50 km/h nicht ausreichend?

Das grösste Missverständnis im Bereich der Motorrad-Schutzausrüstung ist der Glaube, dass „CE-geprüft“ gleich „sicher“ bedeutet. Die Realität ist alarmierend, besonders in der Schweiz, wo die Unfallzahlen hoch sind. Allein im Jahr 2023 wurden gemäss der neuesten BFU-Statistik 1160 Motorradfahrende in der Schweiz schwer verletzt, ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Viele dieser Verletzungen wären mit der richtigen Ausrüstung vermeidbar gewesen. Das Problem liegt in der niedrigsten Schutzklasse der Norm EN 17092: der Klasse A. Diese Ausrüstung ist für Geschwindigkeiten bis ca. 45 km/h ausgelegt, was sie für alles andere als den reinen Stadtverkehr ungeeignet macht.

Eine Jacke der Klasse A besteht oft aus Materialien, die einem Sturz bei 50 km/h, einer typischen Geschwindigkeit innerorts, nicht standhalten. Die Abriebfestigkeit ist minimal. Dies bestätigt auch ein Experte auf diesem Gebiet. Wie der Redakteur Tobias Beyl vom Fachmagazin MOTORRAD betont, sind die Grenzen dieser Klasse schnell erreicht:

Eine Klasse-A-Jacke hält dem Rutschen auf Asphalt bei 50 km/h nur ca. 1 Sekunde stand. Eine Klasse-AAA-Jacke über 4 Sekunden.

– Tobias Beyl, MOTORRAD Online – Schutzstandard-Ratgeber

Diese eine Sekunde ist der kritische Unterschied zwischen leichten Schürfwunden und schweren Verletzungen, die eine Hauttransplantation erfordern. Hersteller nutzen die Klasse-A-Zertifizierung oft als Marketing-Falle. Sie können eine modische, leichte Jacke als „CE-geprüfte Motorradjacke“ verkaufen, obwohl sie auf einer Schweizer Land- oder Passstrasse praktisch keinen Schutz bietet. Für den Fahrer entsteht so eine trügerische Sicherheit. Um nicht in diese Falle zu tappen, ist es entscheidend, das Etikett selbst lesen zu können.

Ihre Checkliste: So identifizieren Sie die echte CE-Klasse in 5 Schritten

  1. Etikett finden: Suchen Sie das fest eingenähte CE-Etikett im Kleidungsstück. Es befindet sich meist am Bund, im Kragen oder in einer Innentasche, niemals als loser Anhänger.
  2. Piktogramm prüfen: Auf dem Label muss ein klares Motorradfahrer-Piktogramm abgebildet sein. Fehlt es, handelt es sich nicht um geprüfte Motorrad-Schutzkleidung.
  3. Schutzklasse identifizieren: Finden Sie die Angabe zur Norm EN 17092. Direkt daneben steht die entscheidende Schutzklasse: A, AA oder AAA. Dies ist die wichtigste Information.
  4. Klasse und Fahrstil abgleichen: Vergleichen Sie die Klasse mit Ihrer typischen Fahrgeschwindigkeit. Klasse A ist nur für den Stadtverkehr (bis 45 km/h), Klasse AA für Touren und Landstrassen (bis 75 km/h) und Klasse AAA für die Rennstrecke oder sehr sportliches Fahren (bis 120 km/h).
  5. Booklet-Symbol beachten: Ein Symbol eines aufgeschlagenen Buches weist darauf hin, dass der Hersteller im beiliegenden Informationsheft weitere wichtige Details zu Pflege und Nutzung bereitstellt.

Wie unterscheiden Sie CE-Level A, AA und AAA beim Protektorenkauf?

Nachdem wir die grundlegende Schwäche der Klasse A aufgedeckt haben, ist der nächste Schritt, die Unterschiede zwischen den drei Hauptschutzklassen A, AA und AAA zu verstehen. Diese Klassifizierung gemäss EN 17092 bezieht sich primär auf die Abriebfestigkeit des gesamten Kleidungsstücks – also wie gut die Jacke oder Hose einem Rutsch über den Asphalt widersteht. Die Wahl der richtigen Klasse sollte direkt von Ihrem persönlichen Fahrprofil und der typischen Umgebung abhängen. Ein Fahrer, der hauptsächlich im Stadtverkehr von Genf oder Zürich unterwegs ist, hat ein anderes Risikoprofil als jemand, der regelmässig Pässe wie den Gotthard oder Furka befährt.

Die Klassen sind so konzipiert, dass sie unterschiedliche Szenarien abdecken. Klasse A ist für geringe Geschwindigkeiten konzipiert und bietet die höchste Flexibilität und den besten Komfort, jedoch auf Kosten der Sicherheit. Klasse AA stellt den Goldstandard für die meisten Touren- und Alltagsfahrer in der Schweiz dar. Sie bietet einen guten Kompromiss aus hoher Abriebfestigkeit für Landstrassengeschwindigkeiten und angemessener Beweglichkeit. Klasse AAA ist die höchste Stufe, die ursprünglich für die Rennstrecke entwickelt wurde. Sie bietet maximalen Schutz, geht aber oft mit Einschränkungen bei Komfort und Belüftung einher.

Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Unterschiede und Einsatzbereiche der Schutzklassen übersichtlich zusammen und dient als schnelle Entscheidungshilfe beim Kauf.

Vergleich der CE-Schutzklassen für Motorradbekleidung
Schutzklasse Geschwindigkeit Einsatzbereich Beweglichkeit
AAA (EN 17092-2) 120 km/h Rennstrecke/Sportfahren Eingeschränkt
AA (EN 17092-3) 75 km/h Touren/Landstrasse Gut
A (EN 17092-4) 45 km/h Stadt/Freizeit Sehr gut

Die richtige Ausrüstung ist nicht nur eine Frage der Norm, sondern auch des Kontexts. Für das Fahren in der spektakulären, aber anspruchsvollen Schweizer Bergwelt ist eine Ausrüstung der Klasse AA das absolute Minimum.

Motorradfahrer in voller Schutzausrüstung auf einem Schweizer Alpenpass, der die Notwendigkeit von Klasse AA oder AAA verdeutlicht.

Wie die Aufnahme zeigt, erfordern alpine Bedingungen maximale Konzentration und bestmöglichen Schutz. Hier auf eine Ausrüstung der Klasse A zu vertrauen, wäre grob fahrlässig. Die Wahl der richtigen Klasse ist der erste und wichtigste Schritt zur Maximierung Ihrer Sicherheit.

Fest eingenähte oder Steckprotektoren: Was bietet mehr Schutz bei Stürzen?

Während die Klasse (A, AA, AAA) die Abriebfestigkeit des Textils oder Leders definiert, ist der zweite entscheidende Sicherheitsfaktor der Aufprallschutz. Dieser wird durch die Protektoren an Gelenken wie Schultern, Ellbogen, Knien und am Rücken gewährleistet. Hier gilt die Norm EN 1621. Ein häufiger Fehler ist die Annahme, dass eine teure Jacke automatisch die besten Protektoren enthält. Das ist nicht immer der Fall. Es gibt zwei Schutzlevel: Level 1 und Level 2. Der Unterschied liegt in der Fähigkeit, Aufprallenergie zu absorbieren.

Die Messgrösse ist die Restkraft in Kilonewton (kN), die nach dem Aufprall noch auf den Körper übertragen wird. Je niedriger der Wert, desto besser der Schutz. Laut der europäischen Norm EN 1621 sind die Anforderungen klar definiert: Level 2 Protektoren müssen die Aufprallenergie so gut absorbieren, dass die durchschnittliche Restkraft unter 20 kN bleibt, während Level 1 bis zu 35 kN Restkraft erlaubt. Das bedeutet, ein Level 2 Protektor lässt fast die Hälfte weniger Energie auf Ihren Knochen und Ihre Gelenke durch. Premium-Hersteller setzen daher konsequent auf Level 2. Ein Anzug wie der Touratech Compañero Ultimate ist beispielsweise ausschliesslich mit Protektoren der höchsten Schutzklasse Level 2 ausgestattet, um maximale Sicherheit zu gewährleisten.

Ein weiterer Aspekt ist die Positionierung. Steckprotektoren in dafür vorgesehenen Taschen bieten Flexibilität, da sie herausgenommen und ausgetauscht werden können. Ihre grösste Schwäche ist jedoch, dass sie bei einem Sturz verrutschen können. Wenn der Protektor im Moment des Aufpralls nicht exakt über dem Gelenk sitzt, ist sein Schutzwert gleich null. Fest eingenähte oder fest integrierte Protektoren, wie sie oft in hochwertigen Lederkombis zu finden sind, bieten hier einen klaren Vorteil. Sie bleiben exakt an ihrer Position und garantieren so, dass der Schutz im Ernstfall auch dort wirkt, wo er gebraucht wird. Bei der Wahl zwischen den Systemen gilt: Ein perfekt sitzender, aber verrutschender Level-2-Protektor kann weniger schützen als ein fest sitzender Level-1-Protektor. Die Passform und der feste Sitz der Protektoren sind daher ebenso wichtig wie ihr Schutzlevel.

Die CE-Fälschung bei Billiganbietern, die 65% der Onlinekäufer übersehen

Die Gier nach Schnäppchen ist menschlich, aber beim Kauf von Schutzausrüstung kann sie lebensgefährlich sein. Der Online-Markt ist überschwemmt mit extrem günstigen „Motorradjacken“ von unbekannten Anbietern, die mit gefälschten oder irreführenden CE-Kennzeichnungen werben. Das Problem ist, dass viele Käufer die verräterischen Zeichen nicht erkennen. Eine echte Zertifizierung ist ein aufwendiger und teurer Prozess, den sich Billiganbieter sparen. Seit einer EU-Verordnung müssen Händler und Hersteller in ihrem Angebot nur noch nach EN 17092 zertifizierte Schutzkleidung als Motorradbekleidung anbieten. Skrupellose Verkäufer umgehen dies, indem sie Kennzeichnungen fälschen.

Eine gefälschte Kennzeichnung zu erkennen, erfordert einen geschulten Blick, ist aber nicht unmöglich. Der erste und wichtigste Grundsatz: Ein echtes CE-Label ist immer fest in das Kleidungsstück eingenäht. Ein Aufkleber, ein Pappanhänger oder ein lose beigelegter Zettel sind wertlos und ein klares Warnsignal. Ein verdächtig niedriger Preis, der weit unter 50% des üblichen Marktpreises für vergleichbare, zertifizierte Produkte liegt, sollte ebenfalls alle Alarmglocken schrillen lassen. Echte Sicherheit hat ihren Preis, der sich aus hochwertigen Materialien, aufwendiger Verarbeitung und den Kosten für die Zertifizierungsprüfung zusammensetzt.

Um sich vor diesen gefährlichen Fälschungen zu schützen, sollten Sie eine systematische Prüfung vornehmen. Die folgende Liste fasst die wichtigsten Warnzeichen zusammen, auf die Sie achten müssen, um nicht auf eine Fälschung hereinzufallen.

  • Fehlendes fest eingenähtes Etikett: Das Label ist nur aufgeklebt, lose beigelegt oder als Kartonanhänger vorhanden.
  • Keine Normenangabe: Die spezifische Norm (z.B. EN 17092 für Kleidung oder EN 13594 für Handschuhe) fehlt auf dem Label.
  • Fehlendes Motorradfahrer-Piktogramm: Das stilisierte Bild eines Motorradfahrers ist ein Pflichtbestandteil.
  • Keine Schutzklassen-Angabe: Die entscheidende Information (A, AA oder AAA) fehlt.
  • Fehlende vierstellige Prüfstellennummer: Jede Zertifizierung wird von einem notifizierten Institut durchgeführt, dessen Kennnummer auf dem Label stehen muss.
  • Fehlendes Booklet-Symbol: Das Symbol eines aufgeschlagenen Buches, das auf die beiliegende Benutzerinformation verweist, fehlt.

Sollten Sie CE-konforme Bekleidung nach einem Sturz ohne sichtbare Schäden ersetzen?

Ein Sturz ist passiert, die Kleidung sieht auf den ersten Blick noch intakt aus. Kaum ein Kratzer, keine Risse. Die Versuchung ist gross, sie einfach weiterzutragen. Doch das ist ein gefährlicher Trugschluss. Die strukturelle Integrität von Schutzkleidung kann nach einem Sturz massiv beeinträchtigt sein, selbst wenn äusserlich nichts zu sehen ist. Das Aussenmaterial, die Sicherheitsnähte und vor allem die Protektoren können Mikroschäden erlitten haben, die ihre Schutzwirkung beim nächsten Aufprall drastisch reduzieren.

Besonders kritisch ist dies bei Protektoren. Viele moderne Protektoren sind so konzipiert, dass sie sich bei einem Aufprall verformen, um Energie zu absorbieren. Einige Materialien (insbesondere Hartschalen) sind für einen einzigen starken Aufprall ausgelegt und müssen danach ersetzt werden. Andere, flexiblere Materialien können mehrere leichte Schläge aushalten, sollten aber nach einem heftigen Sturz ebenfalls ausgetauscht werden. Ein Helm muss nach jedem Sturz, selbst aus geringer Höhe, ersetzt werden, da die innere Dämpfungsschicht komprimiert wird und ihre Schutzfunktion verliert. Diese Logik gilt auch für andere Protektoren.

Aber auch die Kleidung selbst hat eine begrenzte Lebensdauer. UV-Strahlung, Witterung und normale Abnutzung altern die Materialien und schwächen die Nähte. Ein deutsches Gerichtsurteil, das oft als Referenz herangezogen wird, gibt hier eine Orientierung: Das Oberlandesgericht Celle entschied, dass die übliche Nutzungsdauer der Schutzbekleidung und des Helmes etwa acht Jahre betrage. Nach dieser Zeit ist ein Austausch auch ohne Sturz empfehlenswert. Nach einem Sturz gilt diese Regel erst recht nicht mehr. Die Devise muss lauten: Im Zweifel für die Sicherheit. Ein Austausch ist immer günstiger als die Behandlung einer vermeidbaren Verletzung.

Wie prüfen Sie in 30 Sekunden, ob ein Motorrad Euro 5 oder nur Euro 4 erfüllt?

In Diskussionen unter Motorradfahrern nehmen technische Daten oft einen grossen Raum ein. Eine häufig gestellte Frage betrifft die Abgasnorm des eigenen Fahrzeugs, insbesondere im Hinblick auf zukünftige Fahrverbote oder Vorschriften. Um schnell zu prüfen, ob ein Motorrad die Euro 5 oder nur die Euro 4 Norm erfüllt, genügt ein Blick in den Fahrzeugausweis. Unter Ziffer 72 „Emissionscode“ ist die Norm eingetragen. Doch bei aller Faszination für die Technik des Motorrads sollten wir die Prioritäten richtig setzen. Die BFU, die Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung, bringt es in einer ihrer Empfehlungen auf den Punkt: „Für Ihr Überleben und Ihre Finanzen nach einem Unfall ist die Norm Ihrer Jacke (EN 17092) entscheidender als die Abgasnorm Ihres Motorrads.“

Diese Aussage ist eine provokante, aber lebenswichtige Erinnerung daran, worauf es wirklich ankommt. Während die Abgasnorm die Umwelt schützt, schützt die Norm Ihrer Kleidung Ihr Leben und Ihre Gesundheit. Die Konzentration auf die falsche Norm kann fatale Folgen haben. Die Gesetzgebung in der Schweiz entwickelt sich weiter, so müssen beispielsweise ab dem 1. Januar 2025 alle neu verkauften Motorräder laut ASTRA-Verordnung die noch strengere Euro 5+ Norm erfüllen. Das ist ein wichtiger Schritt für die Umwelt. Aber für den Fahrer selbst bleibt die entscheidende Frage: Erfüllt meine Ausrüstung die Norm AA oder AAA, oder verlasse ich mich auf eine unzureichende Klasse-A-Zertifizierung?

Die Prüfung der Abgasnorm ist in 30 Sekunden erledigt. Die Prüfung und das Verständnis der Normen Ihrer Schutzausrüstung dauert vielleicht etwas länger, ist aber eine Investition, die sich im Ernstfall um ein Vielfaches auszahlt. Lenken Sie Ihren Fokus als verantwortungsbewusster Fahrer auf die Normen, die Sie direkt schützen. Die beste Abgastechnologie nützt nichts, wenn die Schutzkleidung bei einem Sturz versagt.

ECE 22.05 oder neue 22.06-Norm: Welche bietet 40% mehr Rotationsschutz?

Der Helm ist der unbestritten wichtigste Teil der Schutzausrüstung. In der Schweiz besteht als einzigem Ausrüstungsteil eine Tragepflicht. Doch auch hier gibt es massive Qualitäts- und Sicherheitsunterschiede, die durch die jeweilige Prüfnorm definiert werden. Über Jahre war die Norm ECE 22.05 der Standard. Doch seit 2022 gibt es mit der ECE 22.06 eine neue, deutlich strengere Prüfnorm, die einen Quantensprung in der Helmsicherheit darstellt. Mittlerweile dürfen keine Helme mehr mit der alten Norm 22.05 produziert werden, auch wenn der Abverkauf noch eine Weile andauern darf.

Der entscheidende Unterschied liegt in den Testverfahren. Die alte 22.05-Norm prüfte den Aufprallschutz nur an wenigen, vordefinierten Punkten mit einer einzigen Geschwindigkeit. Die neue 22.06-Norm testet an 12 zusätzlichen, zufälligen Punkten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten (langsam, mittel, schnell). Dies simuliert ein viel realistischeres Unfallszenario. Die wichtigste Neuerung ist jedoch der Test auf Rotationskräfte. Viele schwere Hirnverletzungen entstehen nicht durch den linearen Aufprall, sondern durch die Verdrehung des Kopfes. Die ECE 22.06 misst erstmals die Absorption dieser gefährlichen Rotationsenergie, was den Schutz signifikant erhöht. Ein Helm nach der neuen Norm bietet hier bis zu 40% mehr Schutz.

Optisch sind die Unterschiede für den Laien kaum zu erkennen. Beide Helme können modern und sicher aussehen. Doch die inneren Werte und die geprüfte Sicherheit unterscheiden sich fundamental.

Symbolischer Vergleich zwischen einem alten ECE 22.05 Helm und einem neuen ECE 22.06 Helm, der den technologischen Fortschritt im Schutz darstellt.

Beim Helmkauf gibt es daher nur eine logische Empfehlung: Kaufen Sie ausschliesslich einen Helm, der nach der neuen ECE 22.06 Norm zertifiziert ist. Das Prüflabel finden Sie meist am Kinnriemen oder im Futter des Helms. Achten Sie auf die Ziffernfolge „06“. Es ist die einfachste und effektivste Möglichkeit, den Schutz für Ihren Kopf auf den neuesten Stand der Technik zu bringen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das CE-Zeichen allein ist kein Sicherheitsgarant; die Schutzklasse (A, AA, AAA) nach EN 17092 ist entscheidend.
  • Klasse A ist unzureichend für Fahrten ausserhalb der Stadt. Klasse AA ist der Mindeststandard für Schweizer Landstrassen und Pässe.
  • Achten Sie bei Protektoren auf Level 2 (EN 1621) für maximale Aufpralldämpfung und bei Helmen auf die neue Norm ECE 22.06 für besseren Schutz vor Rotationskräften.

Wie vollständige Schutzausrüstung Ihre Überlebenschance um 80% erhöht

Wir haben die einzelnen Normen und Klassen detailliert analysiert. Doch am Ende zählt das Gesamtpaket. Das Tragen einer vollständigen und korrekt klassifizierten Schutzausrüstung ist der mit Abstand grösste Hebel, den Sie als Fahrer haben, um die Folgen eines Unfalls zu minimieren. Die traurige Realität ist, dass Unfälle passieren, wie das aktuelle BFU-Sicherheitsbarometer zeigt, wonach täglich zwölf Menschen auf Schweizer Strassen schwer oder tödlich verunfallen. Eine umfassende Ausrüstung erhöht die Überlebenschance bei einem schweren Sturz um bis zu 80% und reduziert die Schwere der Verletzungen drastisch.

Untersuchungen zeigen klar, welche Körperregionen am stärksten gefährdet sind. Während der Kopf das höchste Todesrisiko birgt und durch den Helm (Pflicht in der Schweiz) geschützt wird, entfallen rund 45% aller schweren Verletzungen auf die Beine und 25% auf den Oberkörper. Viele Fahrer investieren in eine hochwertige Jacke, sparen aber bei der Hose und fahren in normalen Jeans – ein fataler Fehler. Eine Alltagsjeans bietet bei einem Sturz praktisch keinen Abriebschutz und zerfetzt in Sekundenbruchteilen.

Die folgende Tabelle der BFU zeigt das Verletzungsrisiko nach Körperregion und den dafür empfohlenen Schutz. Sie dient als letzter, eindringlicher Appell, keine Kompromisse bei der Ausrüstung zu machen.

Verletzungsrisiko nach Körperregion und empfohlener Schutz
Körperregion Verletzungsrisiko Empfohlener Schutz
Kopf Höchstes Todesrisiko ECE 22.06 Helm (Pflicht)
Oberkörper 25% aller Verletzungen Jacke Klasse AA/AAA mit Level 2 Protektoren
Beine 45% aller schweren Verletzungen Hose Klasse AA/AAA
Hände Häufigste Verletzung CE Level 2 Handschuhe

Vollständige Schutzausrüstung bedeutet nicht nur, alles zu tragen, sondern alles in der richtigen Schutzklasse zu tragen. Eine Kombination aus einem ECE 22.06 Helm, einer Jacke und Hose der Klasse AA oder AAA mit Level-2-Protektoren, robusten Stiefeln und geprüften Handschuhen ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit für jeden, der seine Leidenschaft langfristig und gesund ausüben möchte.

Ihre Sicherheit liegt in Ihren Händen. Nutzen Sie das hier gewonnene Wissen, um Ihre aktuelle Ausrüstung kritisch zu prüfen und bei zukünftigen Käufen fundierte, lebensrettende Entscheidungen zu treffen.

Häufig gestellte Fragen zu den Sicherheitsnormen für Motorradbekleidung

Wann muss ein Helm nach einem Sturz ersetzt werden?

Ein Helm wird durch die Verformung der inneren Dämpfungsschale bei einem Aufprall unbrauchbar und muss nach jedem Unfall ausgetauscht werden, selbst wenn keine äusseren Schäden sichtbar sind.

Wie lange hält CE-zertifizierte Motorradbekleidung?

Ohne Sturz beträgt die durchschnittliche Nutzungsdauer laut Gerichtsurteilen etwa 8 Jahre. Nach dieser Zeit können Materialermüdung und UV-Strahlung die Schutzwirkung beeinträchtigen. Nach einem Sturz sollte die Kleidung sofort überprüft und im Zweifel ersetzt werden.

Kann man Protektoren nach einem Sturz weiterverwenden?

Protektoren sollten nach jedem Sturz sorgfältig überprüft werden. Bei sichtbarer Verformung, Rissen oder starker Kompression müssen sie unbedingt ausgetauscht werden, da ihre Fähigkeit zur Energieabsorption beeinträchtigt ist.

Geschrieben von Claudia Fischer, Claudia Fischer ist Sicherheitsingenieurin und zertifizierte Produkttesterin für Motorrad-Schutzausrüstung mit 12 Jahren Erfahrung in der Prüfung und Bewertung von Schutzbekleidung nach europäischen CE-Normen.